(2018) Tarifverhandlungen im Öffentlichen Dienst

Armut trotz Zusatzrente? – "Die Versorgungslücke wächst mit jedem Jahr"

Anwalt Bernhard Mathies aus Lüneburg kämpft seit Jahren gegen Ungleichbehandlungen bei der Zusatzrente.

Flensburg Zahlreiche Menschen in Deutschland kommen mit ihrer Rente kaum mehr aus. Denn die Durchschnittsrente ist angesichts steigender Mietpreise und Lebenshaltungskosten schon lange zu niedrig. Man unterscheidet im Prinzip grob zwischen Pensionen, also der Altersversorgung der Beamten, gesetzlicher Rente und der Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes (ZÖD). Daneben gibt es noch andere betriebliche Altersvorsorgen sowie private Vorsorge, zum Beispiel die Riester-Rente.

Während nicht verbeamtete Arbeitnehmer nach 45 Beitragsjahren mit maximal 48 Prozent ihres letzten Einkommens in Rente gehen, erhalten pensionierte Beamte gut 71 Prozent ihres letzten Bruttogehalts – üblicherweise das höchste. Bei der gesetzlichen Rente bekommen die Ruheständler hingegen einen Teil ihres Lebensdurchschnittsverdienstes. 250 Milliarden Euro werden jährlich von der gesetzlichen Rentenkasse an 20,5 Millionen Rentner ausgezahlt. Dagegen wirken die 38,5 Milliarden Euro der Beamtenpension gering. Allerdings gibt es auch nur 1,1 Million pensionierte Beamte.

Laut Alterssicherungsbericht der Bundesregierung erhält ein Beamter im Ruhestand im Schnitt 2293 Euro netto im Monat. Die gesetzliche Nettorente im Durchschnitt aller Rentner liegt bei 861 Euro. Um sich seinen Lebensabend finanziell aufzubessern, gibt es für Angestellte im öffentlichen Dienst die Zusatzrente. Diese soll als die Betriebsrente der nicht verbeamteten Beschäftigten des öffentlichen Dienstes dienen und eigentlich dafür sorgen, dass die Angestellten bei der Altersvorsorge ihren verbeamteten Kollegen nicht zu sehr hinterherhinken. Das Problem: Die Zusatzrente im öffentlichen Dienst liegt im Schnitt bei nur 289 Euro. Zusammen mit der gesetzlichen Rente hat ein durchschnittlicher Betriebsrentner rund 1150 Euro zum Leben – weit entfernt von dem Ruhestandsgehalt der Beamten.

Bernhard Mathies aus Lüneburg ist Rechtsanwalt und kämpft seit Jahren für mehr Gerechtigkeit bei der Zusatzrente im öffentlichen Dienst. Es sollte doch gelten, dass man für gleiche Arbeit auch gleichen Lohn, respektive gleiche Rente bekommt, meint Mathies und kritisiert die Ungleichheit des Systems. „Dass es zwei Kassen für Angestellte Lehrer und verbeamtete Lehrer gibt, zeigt ja schon das Problem.“ Zusätzlich werde die Zusatzrente seit Jahren weitgehend unbemerkt entwertet. Ursprünglich sollte die Gesamtversorgung mit Zusatzrente einen Ausgleich zu den verbeamteten Kollegen schaffen, mahnt Mathies. Doch davon sei nichts mehr übrig. Die Folge sei das eingangs erwähnte Problem: Immer mehr Menschen reiche die Rente zum Leben nicht, obwohl sie sich aus- und fortgebildet, Kinder großgezogen und gearbeitet haben.

Die Ungleichheit sorgt bei den Betroffenen seit mehr als 15 Jahren für Kritik. Und auch Gerichte beschäftigen sich schon seit über einem Jahrzehnt mit dem Thema der Zusatzrente im öffentlichen Dienst. Aber warum ist das so?

Das Problem mit der Zusatzrente

Krankenschwestern, Mitarbeiter der Verwaltung oder angestellte Lehrer: Sie alle sind Beschäftigte im öffentlichen Dienst. Bis Ende 2001 waren sie durch eine Kombination von gesetzlicher Rente und Zusatzrente im Alter bestens versorgt. Die obligatorische Zusatzrente stockte den gesetzlichen Anteil so auf, dass sie je nach Dienstzeit im Alter bis zu 91,75 Prozent ihres Nettogehalts der letzten drei Jahre vor ihrem Ruhestand erhielten. Als betriebliche Altersvorsorge im öffentlichen Dienst gab es immer mindestens eine sogenannte Garantieversorgungsrente von 0,4 Prozent des Einkommens für jedes volle Versicherungsjahr.

Zum 1. Januar 2002 wurde das bisherige endgehaltsbezogene Gesamtversorgungssystem eingestampft und die Zusatzrente von der gesetzlichen Rente abgekoppelt. Seither hängt die Höhe der Zusatzrente nur noch vom Verdienst und vom Alter ab und wird – ähnlich der gesetzlichen Rente – nach einem Punktemodell berechnet. Grund für den Systemwechsel waren zu hohe Kosten.

Das Problem: Nach der neuen Berechnung fallen die Zusatzrenten deutlich niedriger aus. Entscheidend für die Ansprüche ab 2002 sind die gezahlten Beiträge. Für Angestellte, die ab 2002 neu in den öffentlichen Dienst kamen, wird die Rente ausschließlich nach dem neuen System berechnet. Wer vor dem Stichtag begann, im öffentlichen Dienst zu arbeiten, bekam für seine bis dahin erworbenen Ansprüche eine sogenannte Startgutschrift.

Und hier kommt das nächste Problem: Während sich für alle rentennahen Versicherten, also diejenigen, die am 1. Januar 2002 das 55. Lebensjahr bereits vollendet hatten, kaum etwas änderte, zog die Reform vor allem bei den rentenfernen Versicherten Unmut auf sich. Die Kritik vieler der 4,8 Millionen Betroffenen: Insbesondere die rentenfernen Jahrgänge würden mit einer zu geringen Startgutschrift abgespeist. In einem komplizierten Verfahren wurden die bis 2001 erworbenen Rentenanwartschaften eines jeden Angestellten ermittelt und dann als Startgutschrift angerechnet.

Umstellung sorgt für Klagewelle

Die Umstellung ist allerdings so missglückt, dass sie seit 2002 die Gerichte beschäftigt. Denn manche Arbeitnehmer verloren durch diese Berechnung bis zu 80 Prozent ihrer bereits erworbenen Anwartschaften. Und nicht nur das: Die Startgutschriften werden seit 2002 nicht dynamisch und bis auf sogenannte Bonuspunkte gar nicht angepasst.

Am Ende ist das Niveau der Zusatzrente im öffentlichen Dienst im Vergleich zum alten Gesamtversorgungssystem im Durchschnitt um 30 bis 50 Prozent abgesenkt worden. Besonders betroffen sind rund 1,7 Millionen Pflichtversicherte der Geburtsjahre 1947 und jünger bei der Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder (VBL) sowie eine in etwa gleich hohe Zahl Versicherter bei kommunalen und kirchlichen Zusatzversorgungskassen. Viele davon zogen vor Gericht, viele davon sind wiederum heute in Rente oder bereits verstorben.

Zwei Mal war die Reform Thema vor dem Bundesgerichtshof (BGH) – 2007 und 2016. Zwei Mal wurden Tarifparteien zur Nachbesserung aufgefordert. Glaubt man den Kritikern wie Bernhard Mathies, wird es nicht das letzte Mal gewesen sein.

BGH-Urteil sieht Ungleichbehandlung durch neues System

Am 14. November 2007 entschied der BGH, rentenferne Jahrgänge würden durch die Umstellung ungleich behandelt. Die Richter stellten ebenfalls fest, dass insbesondere Beschäftigte, die erst später in den öffentlichen Dienst eintreten (zum Beispiel Akademiker und andere Bedienstete mit einer besonderen Berufsausbildung), benachteiligt würden. Die Ermittlung der bisherigen Anwartschaften in Form von sogenannten rentenfernen Startgutschriften wurde für unwirksam erklärt (Az. IV ZR 74/06).

Im Grundsatz hatte der BGH aber die unter dem Kostendruck der Versorgungskassen vorgenommene Umstellung der Altersversorgung im öffentlichen Dienst auf ein Betriebsrentensystem gebilligt. Auch dagegen sind noch zahlreiche Prozesse anhängig. Unter anderem beanstanden die Betroffenen, dass ihre vor dem Wechsel erwirtschafteten Ansprüche nicht hinreichend berücksichtigt worden seien.

Nachbesserung landet erneut vor dem Bundesgerichtshof

Die Tarifvertragsparteien und Zusatzversorgungkassen mussten nach dem BGH-Urteil also nachbessern. Dies taten Sie mit jahrelanger Verzögerung zum 30. November 2011. Die Neuregelungen umfassten einen Zuschlag für rund 250.000 der 1,7 Millionen rentenfernen Versicherten. 450.000 Pflichtversicherte der Jahrgänge 1961 bis 1978, die nach dem 23. Lebensjahr in den öffentlichen Dienst eintraten, gingen jedoch leer aus.

„Die Neuregelung war eigentlich eine Verschlimmbesserung“, sagt Anwalt Bernhard Mathies, der sich auf das Thema Zusatzrente spezialisiert hat. Er erstritt das Urteil von 2007 vor dem Bundesgerichtshof. Zu sehr hätten die Tarifvertragsparteien auf eine möglichst günstige Umsetzung geachtet. So kam es, dass die Neuregelung zur Übertragung der Anwartschaften aus dem System der Gesamtversorgung die Klagen nicht eindämmen konnte.

Auch die geänderte Regelung zu Startgutschriften für rentenferne Versicherte landete vorm BGH und wurde für unwirksam erklärt, da die Vergleichsberechnung ebenfalls gegen den Gleichheitssatz verstieß. Das Urteil fiel im März 2016 (Az. IV ZR 9/15 und IV ZR 168/15). Damit bestätigte der Bundesgerichtshof sein Urteil aus dem Jahr 2007. Die Ungleichbehandlung werde auch durch die Neuregelung der Satzung für eine Vielzahl rentenferner Versicherter nicht beseitigt.

Einigung auf Neuregelung und Umsetzung bis Herbst 2018

Im Juni 2017 einigten sich die Tarifpartner auf eine weitere Neuregelung über die Berechnung der Startgutschrift, um der Forderung des BGH nachzukommen. Nachdem die Änderungstarifverträge vorliegen, sind die Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder (VBL) und die kommunalen Zusatzversorgungskassen (ZVK) am Zug. Die VBL und die Zusatzversorgungskassen haben in Pressemitteilungen darauf hingewiesen, dass für die technische Umsetzung der Neuregelung eine gewisse Vorlaufzeit benötigt wird. „Nach dem derzeitigen Stand der Planung wird die Neuberechnung der Startgutschriften im August 2018 durchgeführt werden“, sagt VBL-Sprecher Matthias Konrad auf Anfrage. „Daran anschließend werden wir auch automatisch die Renten neu berechnen, soweit sie sich nach Überprüfung der Startgutschrift erhöhen.“ Damit sei dann im Herbst 2018 zu rechnen, sagt Konrad.

Darunter seien rund 440.000 Versicherte, die von der VBL bereits Rentenleistungen erhalten. In wie vielen Fällen konkret eine Erhöhung zu erwarten sei und wie hoch sie ausfallen werde, hänge stark vom Einzelfall und der jeweiligen Versicherungsbiografie ab.

Im Kern sieht die Neufassung vor, den Faktor zu verändern, mit dem der Anteil der Versicherten an der Voll-Leistung ermittelt wird. Unter der Voll-Leistung versteht man den Versorgungsrentenbetrag, den der Versicherte erhalten würde, wenn er 45 Jahre lang in der Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes versichert wäre und somit den Höchstversorgungssatz erreicht hätte. Für jedes Jahr der Pflichtversicherung bis zum 31. Dezember 2001 wurde für den Versicherten bisher ein Anteil von 2,25 Prozent an der Voll-Leistung berücksichtigt. Nach der Neuregelung wird dieser Faktor in Abhängigkeit vom Beginn der Pflichtversicherung verändert, um Späteinsteiger nicht zu benachteiligen.

Während bei Pflichtversicherten mit einem Beschäftigungsbeginn im öffentlichen Dienst bis zum 20. Lebensjahr alles beim Alten bleibt, wird für die Späteinsteiger unter Berücksichtigung des konkreten Eintrittsalters ein Anteilssatz im Rahmen von 2,26 Prozent bei einem jüngeren Eintrittsalter ab 20 Jahren und sieben Monaten, bis zum Höchstsatz von 2,5 Prozent nach dem 25. Lebensjahr zugrunde gelegt. Das bedeutet: Wer zu Beginn der Pflichtversicherung 21 Jahre alt war, für den greift der Anteilssatz von 2,27 Prozent, wer 25 ist, bei dem greift der Höchstsatz. Nach den Berechnungen der VBL erhalten im Westen mehr als 50 Prozent der Angestellten eine höhere Startgutschrift, im Osten mehr als 80 Prozent. Von der Neuregelung profitieren nach Aussagen der VBL viele rentenferne Jahrgänge.

Weiterhin Kritik: „Frauen sind die großen Verlierer“

„Lediglich einer kleinen Gruppe von Späteinsteigern ist durch den neuen Reparaturversuch teilweise geholfen worden“, sagt Mathies. Die weiteren Fehler der Neuberechnung seien aber weder hinreichend geprüft noch beseitigt worden. Auch für Härtefälle gebe es keine Regelung. Mathies prangert unter anderem die fehlende Dynamisierung der Startgutschriften seit 2001 bis zur Rente an. Auch alleinstehende Frauen, insbesondere mit Kindern, Teilzeitbeschäftigte, Schwerbehinderte und Erwerbsunfähigkeitsrentner würden weiterhin massiv benachteiligt, sagt Mathies. „Diesen Gruppen ist es unmöglich, 45 Pflichtversicherungsjahre zu erreichen“, sagt Mathies. Dabei werde es ihnen in der gesetzlichen Rente fiktiv unterstellt.

„Die große Mehrheit geht weiterhin schlicht leer aus“, sagt Mathies und nennt dabei fast alle Beschäftigten im öffentlichen Dienst in den neuen Bundesländern und insbesondere Beschäftigte mit der fiktiven Steuerklasse I/0 in der Startgutschrift. Zum Verständnis: Die fiktive Steuerklasse III/0 ist maßgebend für die Berechnung der zum 31. Dezember 2001 zustehenden Anwartschaft und greift, wenn der Pflichtversicherte am Stichtag verheiratet ist und nicht dauernd getrennt lebt oder wenn er Anspruch auf Kindergeld oder eine entsprechende Leistung für mindestens ein Kind hat. Bei allen übrigen Fällen wird die fiktive Steuerklasse I/0 – mit bekanntermaßen höheren Abzügen – zu Grunde gelegt.

Mathies ist daher überzeugt, dass auch die Neuregelung, sobald sie in Kraft tritt, keinen Bestand haben wird und nennt ein Beispiel. „Eine Krankenschwester, die beispielsweise ab dem 19. Lebensjahr fünf Jahre in Vollzeit gearbeitet und dann vielleicht zehn Jahre Kinder großgezogen hat, und die erst danach in Teilzeit und später in Vollzeit wieder ins Berufsleben einsteigt, wird nie die 45 Beitragsjahre erreichen“, sagt Mathies. Sie werde bei ihrem anteiligen Versorgungssatz von nur 2,25 Prozent statt 2,5 Prozent für Späteinsteiger auch im höheren Alter schlechter gestellt, weil sie eine Familie gegründet habe. Am Ende bleibe nicht viel Rente übrig. Das Problem der Ungleichbehandlung werde somit nicht aufhören, sagt der Rechtsanwalt.

Generell seien geschiedene und verwitwete Frauen die großen Verlierer des Zusatzversorgungsrechts. Sie hätten in der Regel ohnehin nur eine gesetzliche Bruttorente von 30 Prozent des letzten Einkommens im Durchschnitt und hiervon würden dann noch Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge sowie eventuell noch Steuern abgezogen. Die Zusatzversorgung belaufe sich bei ihnen bei Durchschnittseinkünften aus der Startgutschrift heraus nach 20 Jahren Arbeit im öffentlichen Dienst auf vier bis sechs Prozent vom Brutto – „hierauf wird dann noch der volle Kranken- und Pflegeversicherungsbeitrag fällig, sodass mit Abzügen von rund 20 Prozent zu rechnen ist“, sagt Mathies.

Verdi hält Kritik für unberechtigt

„Eine Ungleichbehandlung besteht vor dem oben geschilderten Hintergrund nicht mehr, da die Tarifvertragsparteien die Kritikpunkte des BGH aufgegriffen und die kritisierten Tarifnormen entsprechend verändert haben“, sagt hingegen Verdi-Sprecher Oliver Dilcher auf Nachfrage von shz.de. Von der Neuregelung würden alle Pflichtversicherten erfasst – unabhängig von ihrem Status oder ihrem Geschlecht

Für die Startgutschriften bedeute die Einigung, dass diese automatisch nachberechnet werden. Verdi erwartet demnach, dass jede zweite Nachberechnung zu einer Erhöhung der Startgutschrift führt. Die Erhöhungen bei der VBL würden sich auf durchschnittlich monatlich zwischen 0,37 Euro (Alter bei Versicherungsbeginn 54 Jahre) und 17,57 Euro bei einem Versicherungsbeginn im Alter von 20 Jahren belaufen. Die Beiträge bei den kommunalen Zusatzversorgungskassen wichen von den genannten Zahlen ab, „in der Tendenz“ würden sich aber ähnliche Beiträge ergeben, so Dilcher.

Auch VBL-Sprecher Matthias Konrad geht davon aus, dass mit der Neuberechnung „den Bedenken des Bundesgerichtshofs Rechnung getragen ist und für alle Versicherten eine verfassungskonforme Regelung zu den Startgutschriften gefunden wurde“. Die Tarifpartner hätten in den Tarifverhandlungen verschiedene Lösungsmöglichkeiten zur Umsetzung der Entscheidung des Bundesgerichtshofs diskutiert und abgewogen. Sie hätten sich verantwortungsbewusst für die jetzt im 10. Änderungstarifvertrag zum ATV festgelegte Option entschieden.

Mathies kritisiert die Aussagen und zeigt auf, dass nach wie vor rentennahe und rentenferne Gruppen im Vergleich zum alten Recht benachteiligt werden. Steige ein Arbeitnehmer in den letzten zehn Jahren vor seiner Verrentung noch wesentlich auf, beispielsweise von der Sekretärin zur Frauenbeauftragten oder vom Finanzbuchhalter zum Prokuristen, ändere sich an der bisher erworbenen Anwartschaft nichts mehr.

„Der berufliche Aufstieg wirkt sich im neuen Punktemodell nur für den Zeitraum aus, in dem man aufgestiegen ist und gerade nicht für die bereits erworbene Anwartschaft“, sagt Mathies. Im alten System sei die Anwartschaft endgehaltsbezogen gewesen, jetzt fehle diese Berücksichtigung des beruflichen Aufstiegs und die Abkoppelung vom Endgehalt bewirke „bei manchen Arbeitnehmern“ eine zusätzliche Kürzung im Verhältnis zum alten Recht von circa 30 Prozent.

Auch die rentenfernen Jahrgänge (1947 und jünger) müssten im Verhältnis zum alten System mit Kürzungen ihrer Anwartschaftsberechnung von 30 bis 80 Prozent, je nach zufälligen Gegebenheiten, leben. Das Punktemodell gleiche dies „in keiner Weise“ aus, sagt Mathies und nennt betroffene Gruppen mit der fiktiven Steuerklasse I/0. Absurd sei auch der Umstand, dass rentenferne Jahrgänge, soweit sie der fiktiven Steuerklasse I/0 zugeordnet wurden, sogar weniger erhalten als diejenigen, die später nur nach dem Punktemodell eine Betriebsrente erhalten sollen. „Das erschließt sich nicht.“

Die in 20 oder 30 Jahren Betriebszugehörigkeit im öffentlichen Dienst erworbene Startgutschrift zum 31. Dezember 2001 werde seit diesem Zeitpunkt bis zur Verrentung praktisch nicht dynamisiert. „Durch die jährliche Geldentwertung von im Schnitt zwei Prozent erleidet die Startgutschrift also eine massive Kürzung“, sagt Mathies. Wer beispielsweise 2012 in Rente ging, habe einen Wertverlust seiner Anwartschaft von etwa 20 Prozent zusätzlich hinnehmen müssen. „Man entwertet also liebevoll um 20 Prozent und gibt dann zwei Prozent wieder hinzu“, sagt Mathies der die von der VBL verteilten Bonuspunkte von 0,25 Prozent zwischen 2005 und 2011 dabei berücksichtigt. Diese hätten versicherungsmathematisch allerdings keine vernünftige Grundlage gehabt.

Das Problem mit der Dynamisierung

Zwischen 2005 und 2011 wurden die Startgutschriften um sogenannte Bonuspunkte, jährlich 0,25 Prozent, angepasst. Seither nicht wieder. Die Zusatzrente selbst wird jährlich um ein Prozent angehoben. Diese Dynamisierung verläuft unterhalb der Inflation, sagt Mathies. „Die Zusatzrente wird jedes Jahr weiter entwertet.“ Während die Gewerkschaften – wie derzeit – für Lohnerhöhungen kämpfen, bleiben die Rentner des öffentlichen Dienstes auf der Strecke. „Die Versorgungslücke wächst also mit jedem Jahr“, sagt Mathies. Betroffen seien davon aber nicht nur die Rentner selbst, sondern auch die Angehörigen, die die finanziellen Auswirkungen ebenfalls zu spüren bekämen. Am Ende werden sich möglicherweise EU- oder Internationale Gerichte mit dieser Ungleichbehandlung von Arbeitnehmern bei der Zusatzrente beschäftigen, ist sich Mathies sicher.

Die Kritik ist laut Oliver Dilcher nicht nachvollziehbar. „Die Betriebsrenten werden, beginnend ab dem Jahr 2002, zum 1. Juli eines jeden Jahres um ein Prozent dynamisiert.“ Diese Tarifnorm korrespondiere mit dem Betriebsrentengesetz (Paragraph 16). Demnach hat der Arbeitgeber alle drei Jahre eine Anpassung der laufenden Leistungen der betrieblichen Altersversorgung zu prüfen und hierüber zu entscheiden. Dabei sind insbesondere die Belange des Versorgungsempfängers und die wirtschaftliche Lage des Arbeitgebers zu berücksichtigen. Die Verpflichtung entfällt, wenn der Arbeitgeber sich verpflichtet, die laufenden Leistungen jährlich um wenigstens eins vom Hundert anzupassen. „Auf letzteres haben sich die Sozialpartner des Öffentlichen Dienstes tariflich verständigt. Es handelt sich hier um eine übliche Dynamisierungsvereinbarung“, sagt Dilcher.

Mathies kritisiert: „Die Situation ist mit einer beamtenähnlichen Versorgung, die stets einen Ausgleich der Geldentwertung bei den Beamten und Pensionen erhält, überhaupt nicht zu vergleichen.“ Der Verweis gehe daher beim Vergleichsmaßstab fehl. „Im öffentlichen Dienst musste man nicht damit rechnen, dass man dauerhaft unterhalb der Inflationsrate nur eine Minimaldynamik erhält“, sagt Mathies.

Durch die jährliche Erhöhung der Betriebsrenten um einen Prozentpunkt soll den Arbeitgebern und Versorgungsträgern Kalkulationssicherheit gegeben werden, sagt VBL-Sprecher Konrad. „Aber auch die Versorgungsempfänger gewinnen hierdurch eine größere Sicherheit und Stabilität hinsichtlich der Entwicklung ihrer Betriebsrenten.“ Außerdem sei die Entscheidung höchstrichterlich bestätigt worden.

Was die Startgutschriften betrifft, so können diese „nach den tarifvertraglichen Vorgaben“ über die Vergabe von so genannten Bonuspunkten erhöht werden, sagt Konrad. „Eine weitergehende Dynamisierung der Startgutschriften hat auch der Bundesgerichtshof in seiner Grundsatzentscheidung aus dem Jahr 2007 nicht gefordert“, sagt Konrad.

„Materiell ist festzuhalten, dass in den letzten Jahren die Inflationsrate deutlich unter dieser Ein- Prozent-Marke lag“, sagt Dilcher. Insofern habe die zur Zeit gültige Dynamisierungsregel in den letzten Jahren deutlich über der Inflationsrate (2014= 0,9%; 2015= 0,3%; 2016 = 0,5%) gelegen. Verdi betrachtet jedoch lediglich drei von insgesamt 17 Jahren. 2014, 2015 und 2016 lagt die Inflationsrate krisenbedingt unter dem Anhebungssatz. Das sieht auch Mathies so: „Inzwischen liegen Differenzen im Verhältnis zur Beamtenversorgung von rund 20 Prozent vor“, sagt Mathies. Diese zunehmende Unterversorgung werde in ihrer dramatischen Konsequenz überhaupt nicht betrachtet.

Zwischen den verschiedenen betroffenen Personengruppen werde hinsichtlich der Frage der Dynamisierung nicht unterschieden, sagt Mathies. „Zunächst einmal wurde allen circa zwei Millionen Bestandsrentnern im öffentlichen Dienst die beamtenähnliche Dynamisierung genommen und auf eine Dynamik von nur einem Prozent reduziert“, sagt Mathies. Hier werde der Grundsatz gleicher Lohn für gleiche Arbeit verletzt.

„Von Kritikern der Ein-Prozent-Dynamisierung werden Zusammenhänge leider häufig nicht berücksichtigt“, sagt Dilcher. Zu bedenken sei, dass eine Anhebung der Dynamisierung durch deutlich höhere Beiträge der Aktiven finanziert werden müsste.

Zwar räumt auch Dilcher ein, dass „über den Betrachtungszeitraum 2002 bis 2016“ die Inflationsrate „durchschnittlich bei etwa zwei Prozent“ lag. Allerdings würde sich „durch eine höhere Dynamisierung versicherungsmathematisch eine geringere Anfangsrente ergeben, sofern die übrigen Rentenberechnungsparameter unverändert blieben.“

Kompensiert werde die aus der Sicht der Kritiker zu niedrige Dynamisierungsrate aber auch dadurch, dass in dem kritisierten Bereich eine beitragsorientierte Leistungszusage erteilt wird, sagt Dilcher. „Es wird eine Leistung zugesagt, die sich ergäbe, wenn vier Prozent des Bruttoentgelts vollständig in ein kapitalgedecktes System eingezahlt und am Kapitalmarkt angelegt würde. Dabei wird in der Anwartschaftsphase das Kapital mit 3,25 Prozent und in der Rentenphase mit 5,25 Prozent verzinst.“

Berücksichtigt werde bei der Leistungsberechnung eine Sterbewahrscheinlichkeit, die sich nach der Sterbetafel Heubeck 1998 ergibt. Darauf wird eine Dynamisierung von einem Prozent jeweils zum 1. Juli realisiert. „Die sich daraus ergebene tarifliche Garantieverzinsung liegt bei circa 4,25 Prozent.“

Die betriebliche Altersversorgung sieht Dilcher als wesentliches Instrument zur Verhinderung von Altersarmut. Derzeit befinde man sich in Tarifgesprächen, um eventuell auch die Dynamisierung neu zu gestalten. Ergebnisse seien aber nicht vor Ende dieses Jahres zu erwarten.

Hoffnung auf eine gerechte Veränderung macht sich Mathies nicht. „Das Punktemodell ist keineswegs sicher und wird trotz steigender Einzahlungsleistungen wahrscheinlich bei einer höheren Geldentwertungsrate nur zu äußerst geringen Auszahlungsleistungen führen.“ Die jetzigen Anwartschaftsberechtigten würden genauso enttäuscht, wie die früheren, die auf eine beamtenähnliche Versorgung gehofft hatten.

Zusatzversorgung: Kein Thema für die Medien?

Für die Medien war die Zusatzversorgung lange Zeit kein Thema mehr. Den letzten großen Aufschlag hat die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) im Juli 2016 gemacht. Einen Grund dafür sieht Mathies darin, dass es sich bei dem großen Streitthema lediglich um eine Zusatzrente handelt. Außerdem hätten die Gewerkschaften kein Interesse daran, „die Katastrophe publik zu machen“, meint der Rechtsanwalt. Kritische Stimmen seien einfach nicht erwünscht. Es sei schändlich, wenn bei dem System immer wieder Versorgungsversprechen gebrochen würden und beispielsweise der verheiratete Chefarzt weitgehend ungeschoren davonkomme, während die geschiedene alleinstehende oder verwitwete Mutter eines erwachsenen Kindes in ihren Versorgungsansprüchen ab 2001 halbiert wurde.

Aktuell laufen die Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst. Gefordert werden unter anderem sechs Prozent mehr Lohn und mindestens 200 Euro mehr im Monat. Alle Forderungen stellt Verdi gemeinsam mit dem Beamtenbund (dbb), der Tarifunion, der Gewerkschaft der Polizei (GdP) und der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Verhandelt wird über die Einkommen von 2,3 Millionen Beschäftigten von Bund und Kommunen. Zudem sollen die Regelungen des Tarifvertrags zeit- und wirkungsgleich auf die 344.000 Beamten, Richter und Soldaten sowie 182.000 Versorgungsempfänger des Bundes übertragen werden. Betriebsrentner des öffentlichen Dienstes bleiben jedoch davon ausgenommen. Kritiker monieren die geistige Fehlentwicklung in einer Gewerkschaft, die diese Personengruppe dauerhaft ausspart, anstatt sich für sie einzusetzen.

Mathies, selbst schon im Rentenalter, schließt seine Kanzlei aus Altersgründen im Dezember 2018. Für die Rechte der Betriebsrentner will er sich allerdings weiterhin einsetzen. Schon 1987 gründete er den Verein zur Sicherung der Zusatzversorgungsrente – ein Leuchtturm für Betroffene, die sich durch die Systemumstellung auch heute noch benachteiligt fühlen.

Urheberhinweis:

Armut trotz Zusatzrente? – „Die Versorgungslücke wächst mit jedem Jahr“

www.shz.de – online, 14.04.2018, Text: Gerrit Hencke